- Weltwirtschaft: Wohlstand und Wirtschaftskrisen \(1950-85\)
- Weltwirtschaft: Wohlstand und Wirtschaftskrisen (1950-85)Der Zeitraum von etwa 1950 bis zu Beginn der Siebzigerjahre war durch eine starke wirtschaftliche Expansion gekennzeichnet. Die westlichen, in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammengeschlossenen Industrieländer erzielten zwischen 1950 und 1973 im Durchschnitt ein preisbereinigtes Wachstum ihres Bruttosozialprodukts von 5,4 Prozent pro Jahr. Das große Wirtschaftswachstum ermöglichte eine durch fast alle Gesellschaftsschichten gehende Verbesserung des individuellen Lebensstandards und führte zu einer weiteren Ausbreitung des Massenkonsums. Dass die Fünfziger- und Sechzigerjahre eine Ära des allgemeinen Wohlstands waren, zeigt sich auch an den sehr niedrigen Arbeitslosenquoten, denen zufolge in fast allen OECD-Ländern Vollbeschäftigung herrschte. Der Zeitraum war zudem von wirtschaftlicher Stabilität geprägt. Zwar standen wie 1951/52 oder 1966/67 am Ende der jeweiligen Konjunkturzyklen Rezessionen, es gab aber nicht wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg regelrechte Einbrüche der Wirtschaftsaktivität. Die Grundlagen für diese historisch beispiellose Wirtschaftsentwicklung wurden sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene gelegt. Unter Federführung der USA entstanden internationale Institutionen, die zugleich Kooperation und Wettbewerb förderten: 1944/45 die für multilaterale Entwicklungshilfe zuständige Weltbank sowie der Internationale Währungsfonds (IWF), der ein festes Wechselkurssystem steuerte. Das damit stark verringerte Wechselkursrisiko war vor allem dem internationalen Handel förderlich, der 1947 mit dem Welthandelsabkommen GATT, das die Prinzipien des Freihandels verankerte, einen institutionellen Rahmen erhielt. Der weitgehende Abbau von Zöllen für Rohstoffe und Industrieprodukte zwischen 1947 und 1967 führte zu einem anhaltenden Boom des Welthandels: Der Export der OECD-Länder wuchs von 1950 bis 1973 im Durchschnitt um 8,6 Prozent pro Jahr und stimulierte so vor allem das Wachstum in stark exportabhängigen Volkswirtschaften wie in Westdeutschland und in den Niederlanden.Der KeynesianismusEine zusätzliche Verflechtung erfuhr die Weltwirtschaft durch ausländische Direktinvestitionen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren investierte die führende Wirtschaftsmacht USA ihre Kapitalüberschüsse in ausländische Projekte, vor allem in Westeuropa. In den Siebziger- und Achtzigerjahren folgte eine Trendwende: Zunächst engagierten sich westeuropäische »Multis«, später vor allem multinationale Unternehmen mit Stammsitz in Japan mit Direktinvestitionen in der amerikanischen Wirtschaft.Auch auf der binnenwirtschaftlichen Ebene vollzogen sich zum Teil grundlegende Veränderungen: Nach dem Krieg setzte sich die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die der britische Ökonom John Maynard Keynes in den Zwanziger- und Dreißigerjahren entwickelt hatte, in fast allen OECD-Ländern durch. Der Keynesianismus überträgt dem Staat die Aufgabe, aktiv auf Vollbeschäftigung und eine gleichmäßigere Verteilung von Einkommen und Vermögen hinzuwirken. Dabei soll der Staat vor allem Einbrüche der privaten Nachfrage auffangen, indem er seine Ausgaben erhöht und dafür auch vorübergehende Haushaltsdefizite in Kauf nimmt (deficit spending). Die generelle Ausweitung staatlicher Ausgaben in den ersten Nachkriegsjahrzehnten war zum einen darauf zurückzuführen, dass sozialstaatliche Systeme aufgebaut wurden, deren Leistungen die Empfänger durch Konsum wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückführten, zum anderen auf umfassende öffentliche Aufträge zum Ausbau der (Verkehrs-)Infrastruktur und für die Rüstungsindustrie. Die keynesianische Wirtschaftspolitik stieß auf einen breiten Konsens bei Unternehmen und Gewerkschaften und führte zur Kooperation zwischen beiden Lagern.Westeuropa und Japan entwickelten dabei ein stärkeres Wachstum als die USA. Dies war weniger Folge unterschiedlicher Konjunkturpolitiken als vielmehr Resultat eines Aufholprozesses, da die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Produktionskapazitäten insbesondere in Deutschland und Japan ausgeglichen werden mussten. Zugleich entwickelten sich die meisten westlichen Industrieländer erst in den Nachkriegsjahrzehnten zu modernen Konsumgesellschaften, deren wirtschaftliches Fundament in der Herstellung und Nutzung langlebiger Konsumgüter (Automobile, Immobilien, Unterhaltungselektronik) bestand. Die USA hatten dieses Entwicklungsstadium zumindest ansatzweise schon in den Zwanzigerjahren durchlaufen. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre führten deshalb auch zu einer tendenziellen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsstärke zwischen den OECD-Ländern.Die Jahre der Krise (1973—85)Die Siebzigerjahre brachten das Ende der ökonomischen Stabilität, der Vollbeschäftigung und des kontinuierlichen Wachstums. Im Zeitraum 1973 bis 1985 wuchsen die Volkswirtschaften der OECD-Länder im Durchschnitt nur noch um real 2,3 Prozent im Jahr. Mit Ausnahme Japans verzeichneten die westlichen Industrieländer in den nun häufiger auftretenden Konjunkturkrisen mitunter sogar einen Rückgang des Sozialprodukts. Die Siebzigerjahre waren die Zeit der »Stagflation«, einer Kombination aus Stagnation und Inflation. Während sich in der 1. Hälfte der Achtzigerjahre in den USA und dem ohnehin weniger betroffenen Japan eine wirtschaftliche Erholung abzeichnete, konnten die meisten westeuropäischen Länder ihre Wachstumsprobleme nicht lösen. Hinzu kam in der 1. Hälfte der Siebzigerjahre ein allmählicher Übergang von festen zu flexiblen Wechselkursen. Das währungspolitische Umfeld verlor damit an Stabilität und bot einen verstärkten Anreiz zu teilweise stark spekulativen Devisengeschäften. In Verbindung mit der schon über ein Jahrzehnt zuvor einsetzenden Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs kam eine neue Entwicklung in Gang: der von realen Waren- und Dienstleistungsgeschäften weitgehend abgekoppelte Boom internationaler Kapitalströme.Einen weiteren »Schock« bekamen die Industrieländer durch die Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979/80. Die drastischen Preiserhöhungen für Rohöl vonseiten der arabischen Förderländer heizten in den Industriestaaten die Inflation an, dämpften den Konsum und verschärften damit die bereits ausgebrochene Wirtschaftskrise. Sobald die Binnenkonjunktur ins Stocken geraten war, verlor auch der Welthandel seine Wachstumsdynamik. Ursache war einerseits eine sinkende Importnachfrage, andererseits der Versuch einiger Länder, ihre Wirtschaft nun wieder stärker nach außen abzuschotten. Da das Welthandelsabkommen GATT die Erhöhung von Zöllen grundsätzlich verbot, griffen diese Länder auf nichttarifäre Handelshemmnisse zurück: quantitative Importbeschränkungen, restriktive Gesundheits- und Hygienevorschriften für Einfuhrprodukte, diskriminierende technische Normen und Standards. Dieser aufkeimende »Neoprotektionismus« konnte das liberale Welthandelssystem jedoch nicht grundlegend erschüttern.Gravierender waren die Probleme in der Binnenwirtschaft. Das fast ungebrochene Wachstum der Fünfziger- und Sechzigerjahre hatte vor allem bei den Wirtschaftspolitikern die Überzeugung reifen lassen, das Zeitalter der Wirtschaftskrisen sei endgültig überwunden. Die permanente Erhöhung staatlicher Sozialleistungen förderte den privaten Konsum, wurde aber auch mit einer steigenden Staatsverschuldung erkauft, die die Kapitalmärkte belastete und zu ständigen Preissteigerungen führte. In Westeuropa — vor allem in Westdeutschland, Frankreich und Italien — konnten die politisch relativ starken Gewerkschaften in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren zudem wiederholt kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen, die nicht an der gängigen Formel Produktivitätswachstum plus Inflationsausgleich orientiert waren, sondern auf eine Umverteilung von oben nach unten hinausliefen. Diese »Lohnexplosionen« setzten eine Lohn-Preis-Spirale in Gang. In der 2. Hälfte der Siebzigerjahre verzeichneten die OECD-Länder Preissteigerungsraten zwischen 6 Prozent (Deutschland) und über 24 Prozent (Großbritannien). Fast alle Regierungen versuchten, die Preisstabilität durch restriktive Maßnahmen (Verknappung der Geldmenge) wiederherzustellen, würgten damit aber die Konjunktur ab. Schnell wurde deshalb wieder der Expansionskurs eingeschlagen und in der 2. Hälfte der Siebzigerjahre setzte eine leichte Erholung ein, gepaart mit einer relativen Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Stimuliert wurde die Nachfrage in den Industrieländern durch die starke Öffnung und Expansion der internationalen Kapitalmärkte. So legten die arabischen Staaten ihre Gewinne aus den Erdölgeschäften entweder in den hoch entwickelten Volkswirtschaften an oder kauften dort Investitions- bzw. Rüstungsgüter. Hinzu kam noch ein weiteres Problem: Mit der Stagflation hatte sich seit Mitte der Siebzigerjahre auch die Arbeitslosigkeit immer mehr ausgebreitet und — schlimmer noch — festgesetzt.Neoliberale »Rosskur«Als Hauptursache der Krise wurde zunehmend eine verfehlte Wirtschaftspolitik gesehen. Seit Ende der Siebzigerjahre vollzog sich ein Umbruch vom nachfrageorientierten Keynesianismus hin zum angebotsorientierten Neoliberalismus. Politische Vorreiter waren dabei in Großbritannien Premierministerin Margaret Thatcher und in den USA Präsident Ronald Reagan. Das Konzept der angebotsorientierten Politik basiert im Wesentlichen darauf, verbesserte Investitions- und Produktionsbedingungen für Unternehmen zu schaffen, in erster Linie über eine Kostenentlastung und die Intensivierung des Wettbewerbs. Dies setzt unter anderem den weitestmöglichen Rückzug des Staats aus dem Wirtschaftsgeschehen voraus — durch Privatisierung, durch Deregulierung, das heißt den Abbau von Auflagen innerhalb einzelner Branchen, sowie durch Steuersenkungen und die Reduzierung staatlicher Sozialleistungen. Die Regierung Reagan nahm zwar Kürzungen bei den Sozialprogrammen vor, erhöhte aber zugleich die Rüstungsausgaben stark, um gegenüber der Sowjetunion Stärke zu demonstrieren. Entgegen der offiziellen Rhetorik liefen die Reaganomics damit de facto auf einen »Militärkeynesianismus« hinaus und trugen wesentlich zur Ausweitung der bestehenden Budgetdefizite bei. Dessen ungeachtet konnten die USA in der 1. Hälfte der Achtzigerjahre das insgesamt stärkste Wirtschaftswachstum unter den westlichen Industrieländern verzeichnen, gefolgt von Großbritannien, dessen Wirtschaft ebenfalls einer neoliberalen »Rosskur« unterworfen wurde.Die höchsten Zuwachsraten konnte jedoch aufgrund seiner aggressiven Exportstrategie Japan vorweisen. In den USA und Westeuropa löste das »asiatische Wunder« eine heftige Diskussion um die eigene, offensichtlich mangelhafte internationale Wettbewerbsfähigkeit aus. Besonders betroffen waren die traditionellen Branchen des verarbeitenden Gewerbes. In den USA kam deshalb die Furcht vor einer Deindustrialisierung des Landes auf. Tatsächlich blieb der Anteil des Industriesektors am Bruttosozialprodukt mit rund 25 Prozent relativ konstant, allein weniger Arbeitskräfte kamen zum Einsatz. Diese fanden neue Beschäftigungsmöglichkeiten im aufblühenden Dienstleistungssektor, sodass die amerikanische Wirtschaft seit Mitte der Achtzigerjahre ein »Beschäftigungswunder« erlebte. Der Rückgang der Erwerbslosigkeit war unter anderem ein Ergebnis der teilweise schmerzhaften, aber wirkungsvollen Reformen, insbesondere der Deregulierungsmaßnahmen. Auch in den meisten westeuropäischen Ländern kamen Regierungen, die eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik verfolgten, an die Macht, erwiesen sich aber als deutlich gemäßigter oder politisch weniger durchsetzungsfähig.Im Rückblick erscheint die in den frühen Siebzigerjahren ausgebrochene Dauerkrise nicht vorrangig als konjunkturpolitisches Problem, sondern als Strukturkrise, als Beginn des Umbruchs von der klassischen Industrie- zur modernen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft. Die staatliche Wirtschaftspolitik entschied dabei über die Geschwindigkeit, mit der dieser Strukturwandel bewältigt wurde. Die USA, Großbritannien und Japan bildeten hierbei die Vorhut, allerdings auch mit dem Ergebnis, dass die Einkommens- und Vermögensschere größer wurde und sich mehr soziale Kälte in diesen Gesellschaften ausbreitete. In den meisten Ländern Westeuropas wurde der Strukturwandel hinausgezögert — um den Preis schwächeren Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit.Die osteuropäischen PlanwirtschaftenDie mittel- und osteuropäischen Planwirtschaften der Sowjetunion, der DDR, Bulgariens, Ungarns, Rumäniens, der ČSSR und Polens erzielten im Zeitraum 1950 bis 1973 im Durchschnitt ein reales Wirtschaftswachstum von 5 Prozent pro Jahr. Zwischen 1973 und 1987 sank das Wachstum auf 1,8 Prozent. Allerdings handelt es sich dabei nur um Schätzungen, weil die Wirtschaftsstatistik der sozialistischen Länder Teile des Dienstleistungssektors nicht erfasste und überdies die Zahlen aus politischen Gründen nach oben korrigiert wurden.Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das seit Ende der Zwanzigerjahre verfolgte Entwicklungsmodell Stalins zunächst in der Sowjetunion fortgeführt, dann in den »Volksdemokratien« Mittel- und Osteuropas: In der zwangskollektivierten Landwirtschaft erzielte Gewinne wurden fast ausschließlich in den Aufbau der Schwerindustrie investiert. Das solide Wachstum in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten resultierte indes nicht nur aus dieser Entwicklungsstrategie, sondern war vor allem das Ergebnis eines Aufholprozesses: Die meisten osteuropäischen Länder waren vor dem Zweiten Weltkrieg noch stark agrarisch geprägt, die Kriegsschäden hatten den wirtschaftlichen Rückstand vergrößert. Als problematisch erwies sich jedoch in den Fünfzigerjahren, dass die sozialistischen Staats- und Wirtschaftslenker zu wenig für den privaten Konsum produzieren ließen und so die Verbesserungen im Lebensstandard hinter denen im Westen spürbar zurückblieben. In den Sechzigerjahren wurden die Planwirtschaften dann stärker auf den Konsum ausgerichtet.Dieser Weg sollte zur Autarkie der einzelnen sozialistischen Volkswirtschaften führen. Als sich dies jedoch als unrealistisch erwies, wurde der bereits 1949 gegründete Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den Sechzigerjahren wieder belebt. Offizielles RGW-Ziel war die »sozialistische ökonomische Integration«: Die sozioökonomischen Leistungsniveaus der Mitgliedsländer, zu denen auch Kuba, Vietnam und die Mongolei gehörten, sollten bis spätestens 1980 einander angeglichen werden. Die in Verbindung damit angestrebte umfassende »sozialistische Arbeitsteilung« beschränkte sich jedoch darauf, dass lediglich eine begrenzte Zahl von Produkten — vor allem aus Maschinenbau und Chemie — nur noch in einem RGW-Land hergestellt wurde. Der RGW fungierte so weitgehend als sozialistischer Handelsverbund, in dem Staatsmonopole den streng kontingentierten Ostblockhandel auf der Basis der künstlichen Verrechnungseinheit Transferrubel und damit im Wesentlichen als Tauschgeschäft abwickelten. Der RGW blieb jedoch in hohem Maße vom Westhandel und dabei vor allem von Industrieimporten abhängig. Die daraus resultierenden Handelsdefizite mussten über Kredite in westlichen Währungen finanziert werden, wodurch die Ostblockländer in eine immer tiefere Verschuldung gerieten. Bis 1979 hatte sich ein Schuldenberg von fast 75 Milliarden Dollar angesammelt, mit Polen und der Sowjetunion als Hauptschuldnern an der Spitze.Die Zahlungsbilanzprobleme der Ostblockländer stellten jedoch mitnichten die einzige Ursache für die in den Siebzigerjahren einsetzende Krise und letztlich das Scheitern des sozialistischen Wirtschaftssystems dar. Zentral war die mangelnde Effizienz der Planwirtschaft, die aufgrund des fehlenden Wettbewerbs zu Kapital- und Materialverschwendung einlud und wegen der geringen Spreizung der Löhne keine ausreichenden Arbeitsanreize bot. Dadurch wurde die Produktion teurer, die Waren und Dienstleistungen wurden aus politischen Gründen meist aber weiter unter den realen Kosten verkauft. Insbesondere bei der Sowjetunion stellten die steigenden Rüstungsausgaben eine zunehmende volkswirtschaftliche Belastung dar. Mitte der Achtzigerjahre machten sie 16 Prozent des Bruttosozialprodukts aus — in den USA 7 Prozent. Zusätzlicher Druck entstand für die Sowjetunion infolge steigender Infrastrukturkosten, da Bodenschätze verstärkt im strukturschwachen Sibirien und in Vorderasien abgebaut werden mussten.Die EntwicklungsländerDie sehr heterogene Gruppe der insgesamt weit über 100 Entwicklungsländer erzielte nach Schätzungen der Weltbank im Zeitraum 1950 bis 1975 im Durchschnitt eine jährlich reale Pro-Kopf-Steigerung ihres Bruttosozialprodukts von rund 3 Prozent. Zwischen 1975 und 1985 sank dieses Wachstum jedoch auf durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr.Während die offiziellen Arbeitslosenquoten der Entwicklungsländer im Zeitraum von 1960 bis 1985 zwischen 5 und 10 Prozent schwankten, dürfte die tatsächliche Quote eher zwischen 20 und 30 Prozent gelegen haben. Demnach lebte Ende der Siebzigerjahre immer noch ein Drittel der Bevölkerung dieser Länder in Armut. Innerhalb der meisten Entwicklungsländer war die Verteilung der Einkommen und des Vermögens noch sehr viel ungleichmäßiger als in den OECD-Ländern. Obwohl am Ende der Achtzigerjahre drei Viertel der Weltbevölkerung in Entwicklungsländern lebte, erwirtschafteten diese nur 30 Prozent des Welteinkommens, was die tiefe Wohlstandskluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verdeutlicht. Gleichwohl vollzog sich aber innerhalb der Dritten Welt eine Ausdifferenzierung, die wesentlich auf die jeweilige Entwicklungsstrategie (z. B. Geburtenkontrolle) zurückzuführen war.Nachdem die meisten Kolonialgebiete bis 1965 ihre staatliche Unabhängigkeit erreicht hatten, pflegte das Gros der neuen Staaten weiterhin intensive Wirtschaftsbeziehungen zu seinen ehemaligen Mutterländern. Die OECD-Länder unterstützten und unterstützen die Entwicklungsländer zwar finanziell, ihre Entwicklungshilfe blieb aber weit hinter dem zurück, wozu sie sich Mitte der Siebzigerjahre im Rahmen der UNO verpflichtet hatten. Mit der finanziellen Unterstützung sollten die stark agrarisch geprägten Entwicklungsländer Investitionsgüter kaufen und so ihre Industrialisierung vorantreiben. Das Konzept gilt inzwischen jedoch als weitgehend gescheitert. Eine Ursache besteht darin, dass den Entwicklungsländern eine im »Norden« erprobte Entwicklung vorgegeben wird, die aufgrund eines anderen Wirtschaftsprofils und anderer kultureller Bedingungen nicht ohne weiteres auf den »Süden« übertragbar ist.Einige Länder versuchten dagegen, ihre Entwicklung mithilfe eines sozialistischen Wirtschaftssystems zu beschleunigen. Das bedeutendste Beispiel für einen weitgehend eigenständigen Weg bildet hierbei die Volksrepublik China. Andere Länder wie etwa Kuba, Vietnam und einige afrikanische Staaten orientierten sich stärker am sowjetischen Modell. Sie konnten zum Teil zwar Systeme der sozialen Sicherung errichten, produzierten aber in ökonomischer Hinsicht langfristig katastrophale Ergebnisse. Das 1947 von Großbritannien unabhängig gewordene Indien näherte sich außenpolitisch Moskau an und forcierte ähnlich wie die Sowjetunion den Aufbau staatlicher Schwerindustrien. In den Sechziger- und Siebzigerjahren gelang es Indien dann jedoch weitgehend, durch eine »grüne Revolution« in der Landwirtschaft sich fortan selbstständig mit Nahrungsmitteln zu versorgen.Fortschreitende VerschuldungDie meisten Entwicklungsländer wollten einen eigenen, dritten Weg zwischen Markt- und Planwirtschaft einschlagen. In der Praxis lief dies auf ein hohes Maß an Staatsinterventionismus hinaus. Vielerorts etablierten sich aber Diktaturen, die letztlich mehr Interesse an der Selbstbereicherung als am Allgemeinwohl hatten. Auf der außenwirtschaftlichen Ebene wollten viele der blockfreien Entwicklungsländer nach dem Vorbild der Öl exportierenden Länder Rohstoffkartelle oder zumindest internationale Sicherungssysteme für ihre Produkte wie Zucker, Kaffee, Kupfer, Holz oder Eisenerz errichten, um Preisstabilität zu gewährleisten. Solche Zusammenschlüsse sollten einen integralen Bestandteil der von den Entwicklungsländern in den Siebzigerjahren immer nachdrücklicher geforderten neuen Weltwirtschaftsordnung bilden. Die Industrieländer blockten dies jedoch ab, sodass die Rohstoffpreise kontinuierlich verfielen und 1986 ihren historischen Tiefpunkt seit 1945 erreichten. Die Entwicklungsländer mussten deshalb umso mehr Rohstoffe und landwirtschaftliche Güter exportieren, um ihre vornehmlich aus Industriegütern bestehenden Importe finanzieren zu können.Seit den späten Sechzigerjahren suchte eine Reihe vor allem lateinamerikanischer Länder sich möglichst vollständig von den Mechanismen der Weltwirtschaft abzukoppeln. Sie wollten die Einfuhr von Investitionsgütern (Maschinen, Anlagen) aus den Industrieländern drastisch reduzieren und eine eigene arbeitsintensive Investitionsgüterindustrie aufbauen. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Lateinamerika von knapp 6 Prozent in den Siebzigerjahren schien ein Beleg für den Erfolg dieses Konzepts zu sein. Finanziert wurden die meist staatlichen Industrieprojekte allerdings mit einer ständig steigenden Verschuldung im Ausland. 1975 betrug diese 65 Milliarden, 1982 333 Milliarden und 1987 bereits 445 Milliarden US-Dollar. Fehlinvestitionen, wirkungslose Monopolmärkte, mangelnde Haushaltsdisziplin und stark inflationäre Tendenzen hatten die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas bereits Ende der Siebzigerjahre in eine Rezession geworfen, als der drastische Kursanstieg des Dollars in der 1. Hälfte der Achtzigerjahre zusätzlichen Druck entstehen ließ. Da der Großteil der Schulden in Dollar zurückgezahlt werden musste, sahen sich die größten Schuldnerstaaten Mexiko und Brasilien 1982/83 gezwungen, die Einstellung ihres Schuldendienstes zu erklären. Infolge der Schuldenkrise mussten die meisten Staaten Lateinamerikas tief greifende Strukturreformen im Geiste der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik durchführen, die jedoch langfristig zu mehr Wettbewerbsfähigkeit führten.Eine vollkommen andere Entwicklungsstrategie verfolgten einige ostasiatische Staaten, zuvorderst die »vier kleinen Tiger« Süd-Korea, Hongkong, Taiwan und Singapur. Diese kleinen, rohstoffarmen Länder setzten nach dem Vorbild Japans auf den Export industrieller Fertigprodukte (z. B. Textilien, Unterhaltungselektronik), während sie ihre eigenen Märkte weitgehend abschotteten. Verbesserungen im Bildungswesen erhöhten die Arbeitsproduktivität. Da das Lohnniveau relativ niedrig gehalten wurde, konnten die ostasiatischen Schwellenländer ihre Produkte billiger anbieten als viele Industriestaaten. Seit den Sechzigerjahren erzielten die »vier kleinen Tiger« streckenweise zweistellige Wachstumsraten — allerdings ausgehend von einer niedrigen Basis. In den Neunzigerjahren sollte das asiatische Erfolgsmodell jedoch einen starken Dämpfer erhalten.Lutz Frühbrodt M. A.Cameron, Rondo: Geschichte der Weltwirtschaft, Band 2: Von der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1992.Matis, Herbert / Stiefel, Dieter: Die Weltwirtschaft. Struktur und Entwicklung im 20. Jahrhundert. Wien 1991.
Universal-Lexikon. 2012.